Israel und der Nahe Osten: Interview mit Frank Schätzing

Israel und der Nahe Osten: Interview mit Frank SchätzingBestseller-Autor Frank Schätzing („Der Schwarm“) hat mit seinem neusten Roman „Breaking News“ einen Doku-Thriller über die Geschichte Israels geschrieben. Am 18. November 2014 traf Rolf Tophoven (Terrorismusforscher, Israelkenner und Leiter des Instituts für Krisenprävention, Essen) den Schriftsteller zu einem Interview in Köln.

Herr Schätzing, Sie haben sich in Ihrem jüngsten Buch „Breaking News“ in Realität und Fiktion mit der Lage in Israel und Palästina beschäftigt. Sehen Sie angesichts der jüngsten Gewalt, des eskalierenden Terrors, überhaupt noch Friedenschancen oder stehen wir vor einer dritten Intifada?

Ich bin mir nicht sicher, ob wir vor einer dritten Intifada stehen. Die Westbank, die dabei ja eine wesentliche Rolle spielen würde, ist nicht mehr die Westbank von 2000. In Städten wie Nablus und Ramallah hat sich ein bescheidener Mittelstand entwickelt, ich bezweifle, dass man die kleinen Verbesserungen aus bloßer Solidarität mit Gaza aufs Spiel setzen wird. Angesichts des jüngsten Terrors, explizit der Mordanschläge in der Jerusalemer Synagoge, kann sich die politische Lage natürlich über Nacht wieder ändern. Eine kurzfristige politische Lösung des Konflikts nach westlichen Vorstellungen sehe ich jedenfalls nicht; es funktioniert – wenn überhaupt – nur in kleinen Schritten, und es wird immer wieder Rückschläge geben. Schon deshalb, weil es längst nicht mehr einzig um den Israel-Palästina-Konflikt geht.

Was meinen Sie damit konkret?

In Nahost zerfällt gerade die komplette koloniale Weltordnung, das Erbe der Großmächte des 19. und frühen 20.Jahrhunderts. Alte Bruchlinien öffnen sich. Der Konflikt kann nicht mehr losgelöst von den Problemen der gesamten Region betrachtet werden. Trotzdem bin ich nicht ohne Hoffnung. So illusorisch es derzeit klingen mag, irgendwann wird sich die Idee der Zwei-Staaten-Lösung für Israel und Palästina durchsetzen.

Wo sehen Sie die größten Hemmnisse für den Frieden?

Auf palästinensischer Seite ist es die Hamas, die ihr Überleben sichert, indem sie kalkuliert auf Eskalation setzt. Womit sie die palästinensische Gesellschaft spaltet. Noch mehr zerrissen scheint mir allerdings Israels Gesellschaft, und die Kluft vergrößert sich mit jedem Tag. Die Nationalreligiösen, die ideologische Siedlerbewegung, blockieren in ihrem Großisrael-Wahn jeden Schritt in Richtung Frieden.

Ist der starke Rückhalt der Siedlerbewegung und der Nationalreligiösen bei manchen Politikern in Israel also auch eine Art „Friedensbremse“?

Die Politik hat die Siedler ja erst groß werden lassen. Die Rechten haben sie schon früh instrumentalisiert, speziell Scharon, um seine Sicherheitsinteressen durchzusetzen – und ihm ging es nun wirklich nicht um Religion. Scharon war alles andere als fromm, aber indem er die ideologischen Siedler stärkte, sicherte er sich eine stimmgewaltige Lobby. So wuchsen die Nationalreligiösen zu einer Kraft heran, ohne die heute praktisch niemand regieren kann. Die Resignation, die in der israelischen Gesellschaft aktuell vorherrscht, dass nämlich keine politische Lösung greifen wird, spielt den Radikalen natürlich in die Hände: „Frieden funktioniert nicht“, lautet die Devise der Rechten um Netanjahu, „also halten wir den Unfrieden aufrecht zugunsten maximal möglicher Sicherheit.“ Dieses Mantra geht einher mit dem Urbedürfnis der Nationalreligiösen nach dem biblischen Land Israel, und da stellt sich zusehends die Frage, wer wen dominiert. Als Ariel Scharon damals gegen den Widerstand der radikalen Siedler den Gazastreifen räumen ließ, hatte er noch die Mehrheit aller Israelis hinter sich. Er konnte sich durchsetzen. Widerständler wurden einfach von der Armee aus ihren Häusern getragen. Würde Netanjahu heute verkünden, die Westbank räumen zu wollen – was er nicht tun wird – bin ich nicht sicher, ob nicht zumindest Teile der Armee ihm den Gehorsam verweigern würden.

Wie kommen Sie zu dieser Ansicht?

Schlicht, indem ich die Ausbreitung nationalreligiösen Gedankengutes in Zahal (israelische Armee) beobachte. Zahal war ja mal das getreue Abbild der israelischen Gesellschaft, insofern, als dieses Volk keine Armee hatte, sondern eine Armee war. Wenn man derart von Feinden eingekesselt ist, wie Israel bei seiner Gründung, ist automatisch jeder Soldat. Das hat sich geändert. Aus den Unterdrückten von damals sind Unterdrücker geworden. Wenn Sie über Jahrzehnte ein Land besetzt halten, dort als Soldat stationiert sind, mit Waffengewalt über andere Menschen herrschen, dann können Sie gar nicht anders, als zu verrohen. Das ist das zwangsläufige Schicksal, dass Ihre Psyche erleidet. Sie nehmen Schaden an Ihrer Seele. Viele linke und liberale junge Menschen in Israel erkennen das und verweigern den Wehrdienst. Schlimmer noch, sie verlassen das Land, gehen nach Berlin, London, hinaus in die Welt. Umgekehrt streben immer mehr nationalreligiöse Israelis mit Begeisterung zur Armee und bilden dort Eliten heraus. Zahal entwickelt sich zusehends zu einem Vehikel der Ideologen.

Fehlt heute in der israelischen Politik zur Durchsetzung des Friedens nicht ein Mann wie Ariel Scharon, so umstritten er in seiner Laufbahn als Militär und später als Politiker  auch gewesen sein mag?

Durchaus, wobei man ganz klar sehen muss: Scharon war über viele Jahre Verursacher des Problems. Einer derer, die den ganzen Siedlungswahnsinn überhaupt erst in Gang gesetzt haben. Was ihn indes auszeichnete, war sein nie erlahmender Gestaltungswille. Scharon war ein Macher. Einer, der Standpunkte von gestern über Bord warf, sobald er zu anderen Schlüssen gelangte. Ergo eine progressive Kraft in der Politik, sogar bereit, sich mit den Ultraradikalen anzulegen, die er selber gefördert hatte. Ganz sicher war dieser Scharon kein Versöhnungsromantiker, zuletzt aber ein durchaus hoffnungsvoller Friedenspragmatiker. Der letzte Politiker in Israel, der noch zu einer 180-Grad-Wende bereit war. Heute sehen wir nur noch Verwalter des Konflikts. Und auch den Palästinensern fehlt ein Scharon. Dieselbe Zerrissenheit wie in Israel ist ja auch auf palästinensischer Seite anzutreffen, dort binden die Fanatiker Präsident Abbas die Hände, der seinerseits erschreckend kraftlos wirkt.

Ist der Vormarsch des militanten Islamismus, symbolisiert anfangs durch ISIS, jetzt durch den Islamischen Staat (IS) langfristig auch eine Gefahr für Israel?

Ich denke schon. Eine Bedrohung durch umgebende Staaten, wie noch 1967 und 1973, hat Israel zurzeit jedenfalls nicht zu befürchten. Wohl aber den Zerfall der nahöstlichen Gesellschaften, die Destrukturierung der gesamten Region und die daraus resultierende Herausbildung fanatischer Milizen. Das ist sicher eine Bedrohung für Israel, da bilden sich gefährliche Allianzen. Sollte es wirklich zu einem Zusammenschluss von IS mit al Qaida und anderen islamistischen Terrorgruppierungen kommen, muss man sich auf marodierende Heere mit modernstem Kriegsgerät einstellen, die sich an keine Moral und keinerlei Werte gebunden fühlen. Selbst eine Allianz zwischen Hamas und IS würde ich nicht kategorisch ausschließen, da kommen immerhin sunnitische Interessen zusammen. Israel könnte sich bald in der Situation finden, von Milizen in die Zange genommen zu werden. Allerdings hat das Land damit einige Erfahrung. Und Zahal ist ganz etwas anderes als die irakische Armee oder der kurdische Widerstand.

Angesichts  der gegenwärtig fast unmöglich gewordenen Situation ist es illusorisch überhaupt von Friedensgesprächen geschweige denn von Frieden zu sprechen. Ist für Sie der fortgesetzte Siedlungsbau der israelischen Regierung nicht das größte Hindernis? Nicht die größte Blockade für Gespräche zwischen Israelis und Palästinensern überhaupt?

Absolut! Die Regierung Netanjahu versucht ja fortwährend Tatsachen zu schaffen. Über Strohmänner werden auch in Ost-Jerusalem arabische Häuser aufgekauft, um den jüdischen Einfluss weiter auszudehnen. Politisch ist ein Rückzug aus der Westbank oder die Auflösung der Siedlungen derzeit nicht durchsetzbar. Israel ist nun mal nicht mehr der zionistisch/sozialistisch geprägte Staat von früher. Da entwickelt sich gerade eine rechtsreligiöse Demokratur, mit Tel Aviv als liberaler Insel. Und auch dort ist es nicht mehr so einfach, friedensbewegt und links zu sein.

Wie geht es künftig politisch weiter im Nahen Osten?

Wie gesagt, die einst künstlich geschaffenen Staatsgebilde, die willkürlich gezogenen Grenzen ohne Rücksicht auf Religion, Ethnien und Zusammengehörigkeit – das alles rächt sich jetzt. Der Nahe Osten ist durch den Kolonialismus jahrhundertelang um seine natürliche Entwicklung, wie wir sie in Europa hatten, betrogen worden. Jetzt bricht die alte Weltordnung zusammen, ohne dass eine neue Ordnung in Sicht wäre. Stattdessen erleben wir die nahöstliche Neuauflage des Dreißigjährigen Krieges, sprich, wir müssen uns auf eine lange Phase des Chaos einstellen. Letztlich kann nur eine Kraft den militanten Islamismus austrocknen: nämlich der Islam selbst, übrigens Hauptleidtragender des islamistischen Terrors. Einer Mörderbande wie IS, die sich auf Allah beruft, kann man nur mit Allah beikommen. Der Westen muss helfen, klar, er darf sich nicht raushalten. Aber es ist die überwältigende Mehrheit friedliebender Muslime in aller Welt, die diesen Typen unmissverständlich klar machen muss: Ihr seid nicht gottgefällig, sprecht nicht für uns. Ihr seid Sadisten, Psychopathen, Vergewaltiger, Verbrecher. Nichts weiter.

Rolf Tophoven
Rolf Tophoven leitet das Institut für Krisenprävention (IFTUS) in Essen, früher Institut für Terrorismusforschung und Sicherheitspolitik. Schwerpunkt seiner journalistischen und wissenschaftlichen Tätigkeit sind der Nahostkonflikt sowie der nationale, internationale und islamistische Terrorismus. Kontakt: E-Mail: info@iftus.de
Scroll to top