„Harte“ Fakten vs. diffuse Ängste

Ein Kommentar zur drohenden Vermischung von Terrorgefahr und Flüchtlingsfrage

„Meine Meinung steht fest, also verwirren Sie mich nicht mit Tatsachen.“ Jeder von uns kennt diesen Spruch, der millionenfach auf Postkarten gedruckt wurde. In der aktuellen Debatte erhält er eine besondere Relevanz. Teile der deutschen Öffentlichkeit fragen sich gerade nach der Anschlagserie in Paris am 13. November 2015, ob die derzeitige Zuwanderung durch Flüchtlinge zu einer veränderten Sicherheitslage führt. Importieren wir uns damit IS-Terroristen?

Die nachweisbare Antwort ist „nein!“. Allerdings hält das einige Zeitgenossen nicht davon ab, entgegen nachlesbarem Wissen genau dies zu propagieren. Denn ein Anstieg der Terrorgefahr ist eine der größten Ängste, die die Deutschen mit den Tausenden Flüchtlingen verbinden. Die unzulässige Vermischung zweier Themen, die eigentlich nichts miteinander zu tun haben, dient den eigenen politischen Interessen. Deutschland ist Exporteur von Terroristen, denn den über 750 ausgereisten Kämpfern aus Deutschland stehen bisher exakt null „Flüchtlinge mit Dschihad-Ideologie“ gegenüber. Daher nachfolgend einige Fakten.

Journalisten des renommierten britischen Magazins „The Economist“ haben im Oktober 2015 in die USA geblickt und dort die Terrorgefahr durch Flüchtlinge untersucht. Das Ergebnis: Von 750.000 Flüchtlingen, die seit dem 11. September 2001 in die USA gekommen sind, ist kein einziger wegen Terrorvorwürfen verhaftet worden; auch nicht Flüchtlinge aus Syrien, dem Irak oder Afghanistan.

Bisher sind mehr als 750 Dschihadisten aus Deutschland in die Krisenregion im Zweistromland ausgereist, um dort für den „Islamischen Staat“ zu kämpfen, darunter bis zu zehn aus Deutschland stammende Selbstmordattentäter, die Anschläge im Irak und in Syrien verübt haben. Elf Prozent der „Dschihad-Touristen“ waren Frauen. Rund 60 Prozent wurden in Deutschland geboren, die überwiegende Mehrheit hat einen deutschen Pass. Circa 40 Dschihadisten aus Deutschland kamen bisher im syrisch-irakischen Bürgerkrieg ums Leben.

„Die Flüchtlinge, die zu uns kommen, fliehen genau vor jenen IS-Typen, die jetzt in Paris aktiv waren", formulierte Martin Schulz, Präsident des Europäischen Parlaments, in zahlreichen Presseerklärungen; und er hat Recht! Kaum etwas wäre zynischer, als ausgerechnet Flüchtlinge für die Terroristen des „Islamischen Staates“ verantwortlich zu machen, denen sie unter Einsatz ihres Lebens entkommen sind. Gerade mit diesen Leuten müssen wir uns verbünden. Aber in der „Flüchtlingsdebatte“ liegen bei manchen Politikern Zynismus und Populismus erschreckend dicht beieinander. Ermutigt werden damit nur „Allianzen der Einfältigkeit und des Kalküls“.

Attentäter müssen nicht von außen ins Land gebracht werden, denn sie sind schon da. Es gibt viele Fanatiker, die sich in Deutschland radikalisiert haben. Etwa 1.000 Menschen werden in Deutschland dem islamistisch-terroristischen Spektrum zugerechnet, darunter circa 420 „Gefährder“. Von den mehr als 750 Islamisten aus Deutschland, die bislang Richtung Syrien und Irak ausgereist sind, ist ein Drittel wieder zurück – also circa 250 Menschen. Etwa 70 davon haben Kampferfahrung gesammelt. Die meisten sind deutsche Staatsbürger, die legal einreisen können, sodass der IS keine Kämpfer auf die „unsicheren“ Flüchtlingsrouten schicken muss.

Bei Polizei und Geheimdiensten gingen bisher etwa 100 Hinweise auf mögliche Terroristen ein, die als aktuelle Flüchtlinge nach Deutschland gekommen sein sollen. In keinem dieser Fälle hat sich der Verdacht bisher bestätigt. Terroristen werden eher auf anderem Weg versuchen, nach Deutschland zu kommen – etwa mit gefälschten Papieren im Flugzeug oder auf den Schleuserrouten, die bereits vor der aktuellen Flüchtlingswelle existierten. Die Flüchtlingsrouten über den Balkan oder das Mittelmeer sind zu lang und risikobehaftet, um für den IS wirklich interessant zu sein. Eher könnte er durch gezielte Einzeleinschleusungen versuchen, in Deutschland durch Rufschädigung der Flüchtlinge eine Willkommenskultur und deren Integration zu torpedieren, um selbst Anwerbungsversuche zu starten.

Die Sicherheitsbehörden beobachten daher mit Sorge, dass lokale Islamisten versuchen, in Deutschland junge Flüchtlinge in Lagern zu rekrutieren. Doch dem kann entgegengewirkt werden: „Wir müssen die Menschen schnell integrieren, wir müssen Sprachprogramme aufsetzen, Talente fördern, die Menschen schnell in Lohn und Brot bringen. Wir müssen ihnen das Gefühl geben, dass wir sie nicht nur respektieren – das wird ja im Moment in einer unglaublichen Art und Weise getan –, sondern, dass sie hier gebraucht werden. Dann werden die Flüchtlinge das Vertrauen zurückzahlen – nicht nur im ökonomischen, sondern auch im gesellschaftlichen Sinne“, erklärte der Vorsitzende des Zentralrates der Muslime in Deutschland, Aiman Mazyek, in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung bereits am 12.09.2015.

Das Bundesministerium des Innern stellte im November 2015 ein erstes Lagebild zur Kriminalität im Zusammenhang mit der aktuellen Flüchtlingssituation vor. Bundesinnenminister Thomas de Maizière erklärte hierzu: „Insgesamt zeigen uns die derzeit verfügbaren Tendenzaussagen, dass Flüchtlinge im Durchschnitt genauso wenig oder oft straffällig werden wie Vergleichsgruppen der hiesigen Bevölkerung. Der Großteil von ihnen begeht keine Straftaten, sie suchen vielmehr in Deutschland Schutz und Frieden.“ (Pressemitteilung des BMI vom 13.11.2015).

Kann ausgeschlossen werden, dass der „Islamische Staat“ Kämpfer unter die Flüchtlinge mischt? Natürlich nicht. Ebenso kann auch nicht ausgeschlossen werden, dass morgen Außerirdische landen oder aus Syrien und dem Irak irgendwann stabile Staaten werden. Es ist nur wenig wahrscheinlich.

Alle diese Fakten können manche politischen „Stammtisch-Desperados“ wenig beeindrucken. Hier wird auf dem Rücken leidgeprüfter Menschen, die alles verloren haben, eigene Interessen- und Klientelpolitik betrieben. Alle, die sich den Werten des Grundgesetzes verpflichtet fühlen, sollten sich würdiger verhal-ten.

Dr. Kai Hirschmann ist stellvertretender Direktor des Instituts für Terrorismusforschung und Sicherheitspolitik (IFTUS), Essen

Dr. Kai Hirschmann
Dr. Kai Hirschmann, Publizist, Lehrbeauftragter für Sicherheitspolitik, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität, Bonn, stellvertretender Direktor des IFTUS – Institut für Krisenprävention, Essen und Redakteur des Security Explorers.
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