Kommentar: Nationale Identitäten – die neue Gefahr in uns.

Kommentar: Nationale Identitäten – die neue Gefahr in uns.

Irak, Jugoslawien, Myanmar, Sudan, Israel und Palästina, das sind nur einige der wenigen Länder in denen Nationalismus zu Auseinandersetzungen, Unruhen und Kriegen führt. Spanien hat sich kürzlich, wenn auch in einem deutlich anderen Verhältnis von Gewalt, dazu gereiht. In vielen anderen Staaten, auch in Europa, um mit Italien (Südtirol, Venetien), Belgien (Flandern) oder Großbritannien (Schottland) nur ein paar zu nennen, führen nationale Identitäten zu Zerwürfnissen zwischen Menschen.

Deutschland, Frankreich, Polen, Ungarn, Österreich, Russland und die USA, wieder nur ein paar Beispiele, erleben zur gleichen Zeit einen massiven Aufschwung der rechten Strömung und rechten Parteien, die dazu aufrufen, den Nationalstaat zu bewahren und mit Waffengewalt zu schützen.

Die Geschichte hat gezeigt, wie gefährlich nationale Ideologien für Sicherheit und Frieden sind. Gab es in Spanien in der derzeitigen Auseinandersetzung um die Unabhängigkeit Kataloniens bisher keine Toten, so zeigt die Bilanz – beinahe 900 Verletzte vom ersten Oktoberwochenende rund um das „Referendum“ – dennoch deutlich die zerstörerischen Tendenzen aufbegehrender (regionaler) nationaler Identität. Nationalismus führte also nicht nur im letzten Jahrhundert zu zwei Weltkriegen, sondern ist auch aktuell, Tendenz steigend, ein enormes und noch zu definierendes Sicherheitsrisiko. Staaten tendieren dazu, auf Bedrohungen und Sicherheitsrisiken mit einem höheren Polizei- und Militäraufgebot, weitreichender Überwachung und strikteren Regeln zu reagieren. Oft ist dies ein legitimes Mittel. Fraglich ist allerdings, ob diese Maßnahmen als Antwort auf die vom Nationalismus ausgehenden Bedrohungen sinnhaft sind, umfassen diese doch mehr als nur den Aspekt gewalttätiger Bedrohung.

Die letzten Tage in Spanien haben gezeigt, dass staatliche Exekutivorgane, wie die Polizei, keine passende und ausreichende Antwort auf diese Art von Bedrohung sind. Wie aber kann man das Risiko dieser wachsenden gewalttätigen Bedrohung minimieren? Die Antwort liegt in der besonderen Natur dieser Bedrohung: Sie gründet sich auf einem sozial konstruierten Konzept, Nationalismus und dessen starken, einflussreichen Narrativen in den Köpfen der Menschen.

Benedict Anderson untersuchte 1983 in seinem Buch „Imagined Communities“ (Die Erfindung der Nation) das Konzept Nationalismus. Er zeigt, wie sich die Idee nationaler Identitäten erst Ende des 18. Jahrhunderts entwickelt hat und erst Ende des 19. Jahrhunderts begann, als Begriff im allgemeinen Sprachgebrauch Bedeutungen zu finden. Das zeigt ein Paradoxon nationaler Ideologien auf, die nationale Identitäten als eine Art archetypisches Bild – natürlich positiver Konnotation – mit überdauerndem Wahrheitsgehalt verkaufen, während es eigentlich ein objektives Konzept der modernen Staaten ist. Nationalismus ist also ein 200 Jahre junges, sozial konstruiertes Konzept, das die Stabilität, den Frieden und die Sicherheit einzelner Menschen und ganzer Völker auf der Welt bedroht.

Und während der Mensch für sich reklamiert, ein lernendes Individuum zu sein, wiederholt er an verschiedensten Stellen dieser Erde die gleichen Fehler. Es kämpfen Nachbarn gegen Nachbarn um etwas Nichtmaterielles, um ein ethnisches, religiöses, weltanschauliches, gemeinsam- und zugehörigkeitspostulierendes, emotionales und sozial konstruiertes Konzept. Dieses hat, wenn es emotional aufgeladen wird, eine so zerstörerische Kraft (oder je nach Betrachtungsstandpunkt befreiende Kraft), dass es zu einer gewalttätigen Bedrohung gewachsen ist.

Anderson identifiziert nationale Völker als „imagined communities“, denn in jeder Gemeinschaft, die größer als ein kleines Dorf ist, kann sich der Mensch die Gemeinschaft nur vorstellen. Eine nationale Identität, und die einhergehende gedachte Gemeinschaft, setzt sich aus vielen verschiedenen politischen und ideologischen Konstellationen zusammen, in denen Sprache, Religion, Tradition und soziale Normen eine Rolle spielen. Viele Konflikte, die im Namen von Nationalismus entstanden sind, beinhalten außerdem eine große ökonomische Motivation, wobei sich hier diskutieren lässt, ob Nationalismus nur als Deckmantel für wirtschaftliche Interessen benutzt wird. Auch deshalb ist Nationalismus weiterhin ein viel diskutiertes und schwer definierbares Konzept in den interdisziplinären Wissenschaften.

Die Identifikation anhand von politischen und ideologischen Konstellationen allerdings kreiert Spannungen, die schließlich zu Konflikten führen. Identifikation kann auf verschiedenen Ebenen stattfinden, wodurch sich die Konstellationen nicht immer im gleichen Maße überschneiden. So besteht zum Beispiel eine Divergenz zwischen der religiösen-gedachten Gemeinschaft der Katholiken in Spanien und Polen und der sprachlichen-gedachten Gesellschaft zwischen den beiden Ländern. Da viele Faktoren dazu führen, eine Identität zu formen, ist auch eine nationale Identität selten homogen. Sprache, Religion, Normen und Traditionen überschreiten oft Ländergrenzen und existieren in verschiedenen Konstellationen innerhalb dieser. Dennoch proklamiert Nationalismus eine homogene Identität, projiziert auf ein Territorium, und zerschneidet mit künstlichen Linien Sprach-, Kultur- und Religionsgemeinschaften. Die nationale Identität ist damit exklusiv. Diese Exklusivität, basierend auf einem sozial konstruierten Konzept, ist die Quelle von Konflikten. Einerseits ist Exklusivität als solche konfliktprovozierend, andererseits fällt der Mythos einer homogen-nationalen Identität in der rationalen Realitätsprüfung zusammen. Woraufhin sich eine zerstörerische „fault line“ zwischen Vorstellung und Theorie einerseits und der Realität andererseits im Individuum aufbaut.

Deshalb kann die Relevanz von nationaler Identität, trotz ihrer sozial konstruierten Natur, augenscheinlich nicht unterschätzt werden. Die hässliche Schwester, der durchaus zu schätzenden Heimatverbundenheit oder Heimatliebe, ist gefährlich. Stephan Stetter, Professor an der Bundeswehr Universität München, verdeutlicht in POLITICO[fusion_builder_container hundred_percent="yes" overflow="visible"][fusion_builder_row][fusion_builder_column type="1_1" background_position="left top" background_color="" border_size="" border_color="" border_style="solid" spacing="yes" background_image="" background_repeat="no-repeat" padding="" margin_top="0px" margin_bottom="0px" class="" id="" animation_type="" animation_speed="0.3" animation_direction="left" hide_on_mobile="no" center_content="no" min_height="none"][1], dass Nationalismus ein sehr wichtiges emotionales Thema sei, welches auf der nationalen und internationalen politischen Ebene oft enorm einflussreich und letztlich sogar im Detail ausschlaggebend sei. Die politische Relevanz und die gesellschaftliche Sprengkraft von Nationalismus, oft als emotional hochaufgeladene Stimmung, machen es grundlegend nötig, eine gesamtgesellschaftliche angemessene Antwort und einen durchdachten Umgang mit diesem einflussreichen, und die innere wie die äußere Sicherheit gefährdendem Konzept, zu finden.

Da traditionelle Antworten, wie Gesetze, Polizei und Militär, im Vorfeld der Eindämmung von sich aufbauschenden Stimmungen eher kontraproduktiv sind (es sei denn, sie werden langfristig von Herrscherseite politisch sogar gefördert, wie aktuell in der Türkei oder historisch unter Kaiser Wilhelm II., um das eigene Volk auf einen möglichen Krieg vorzubereiten), muss man dem Ursprung dieser Konflikte und Kriege stattdessen mit Ruhe begegnen und das sozial konstruierte Konzept mit seinem starken Narrativ mit den eigenen Waffen schlagen: Erziehung, die kritisches Denken fördert, die den Menschen hinterfragen lässt, warum und wofür er tatsächlich kämpft, und vor allem gegen wen. Ein Diskurs, der den einzelnen Menschen zum Nachdenken bringt, der Toleranz und gegenseitiges Interesse fördert, und der eventuell den wahren Beweggrund nationalistischer Bewegungen enttarnt, scheint langfristiger und effektiver, stabile Gesellschaften zu schaffen, in der die Sicherheit des Einzelnen gewährleistet ist.

Bereits Kinder müssen in der Schule lernen, dass nationale Identitäten sozial konstruierte Konzepte sind, die selten mit der Realität übereinstimmen, und auf ihre exklusive Art künstliche Grenzen ziehen. Kinder wie Erwachsene müssen lernen, dass es einen fundamentalen Unterschied zwischen der inkludierenden Heimatliebe, mit der Liebe zur Currywurst, den Spätzle, dem Weißbier, und dem exkludierenden Nationalismus auf der anderen Seite gibt. Das Nichtverstehen(wollen) dieses fundamentalen Unterschiedes führt zu gewalttätigen Konflikten, da die exklusiven Aspekte nationaler Identitäten in Staaten über die inklusiven und geteilten Aspekte gestellt werden. Dadurch entstehen Konflikte, die durch Diskurs, Austausch und Erziehung zu vermeiden wären. Ein breiteres Verständnis der sozial konstruierten Natur jedoch könnte zu einer Reduzierung der Relevanz von Nationalismus zur eigenen Identitätsbildung und Verwurzelung führen. Das Gefühl von Verwurzelung mag dem Einzelnen ein Gefühl von subjektiver Sicherheit vermitteln, führt aber langfristig zu Auseinandersetzungen und Zerwürfnissen mit Gewaltpotenzial.

In seinem bekannten Roman „Der englische Patient“ thematisiert Michael Ondaatje, dass Identität die Entscheidung eines Einzelnen ist, und eine solche weder vererbt, noch ungefragt übernommen werden muss. Stattdessen sollte sich der verantwortungsbewusste Mensch mit seiner nationalen Identität und dessen Formation auseinandersetzen, damit er die Relevanz dieses Mythos prüfen kann und dies es ihm erlaubt, kritisch zu hinterfragen, ob dieses sozial konstruierte Konzept mit einem starken Narrativ, ein Zerwürfnis und einen gewalttätigen Konflikt mit seinen Mitmenschen wert ist.

Identität sollte ein zukunftsorientierter, integraler Teil des Menschen sein, anstatt einen rückwärtsgewandten historischen Mythos zu repräsentieren. Bundespräsident Steinmeier mahnte eben diese Punkte in seiner Rede zur deutschen Einheit am 3. Oktober 2017 an und rief weiterhin dazu auf, Heimat nicht durch ein exklusives, sozial konstruiertes Konzept zu definieren, dass Zerwürfnisse kreiert. Steinmeier und Ondaatje erkennen Globalisierung und die Existenz des Nationalstaates als Hindernisse, den exklusiven Mythos zu überkommen, der außerdem die Macht einiger konsolidiert. Die vorgeschlagene präventive Antwort auf die gewalttätige Bedrohung von Nationalismus mag utopisch klingen, aber waren wir nicht schon mal weiter? Zeigt die Gründung der Europäischen Union nicht, dass eine Identifikation außerhalb des exklusiven Konzeptes Nationalismus möglich ist? Hatte der Zweite Weltkrieg uns nicht gelehrt, durch gemeinsame Märkte und Werte die verschiedenen Identifikationsfaktorenkreise inklusiv und nicht abgrenzend aufrecht zu erhalten?

[1] http://www.politico.eu/article/catalonia-referendum-independence-as-spain-falls-apart-europe-is-tongue-tied/?utm_source=POLITICO.EU&utm_campaign=d8b5b4e50c-EMAIL_CAMPAIGN_2017_10_03&utm_medium=email&utm_term=0_10959edeb5-d8b5b4e50c-189995665

Quellenangaben
Titelbild: Fotolia_161915502: (© CrazyCloud / Fotolia)

Friederike Wegener
Friederike Wegener, freie Mitarbeiterin des Security Explorer. Friederike Wegener studierte European Studies in den Niederlanden und Süd-Korea und hat einen Masterabschluss der französischen Universität Sciences Po Paris in International Security mit Fokus auf den Nahen Osten und Intelligence. Sie sammelte bereits Arbeitserfahrung bei consulting plus, der Delegation der Europäischen Union zu den Vereinten Nationen in Wien und bei dem UN Flüchtlingshilfswerk für die Palästinensischen Flüchtlinge im Nahen Osten. Derzeit arbeitet sie bei der Europäischen Kommission im Generaldirektorat Migration und Inneres, in der Unit Prävention von Radikalisierung als Policy Officer in Brüssel. Im August 2018 erschien ihr Buch „Quo Vadis Palästina“ bei consulting plus, in dem sie das Leben als deutsche Studentin im besetzten Gebiet beschreibt und Einblicke in die komplexe politische nationale und international Konfliktlage im Arabisch-Israelischen Konflikt gibt.
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