Das Spektrum des Terrors nach dem Fall des Kalifats

IS: Geschlagen, aber nicht besiegt.

Nationale und internationale Sicherheitsbehörden, Geheimdienste weltweit sprechen in ihren Analysen über die Zukunft des so genannten Kalifats und sind sich einig: Der Fall von Mossul und Rakka bedeutet nicht das Ende des „Islamischen Staates“. Nur, wie geht es weiter, welche Optionen haben die Anhänger des „Kalifats“ nach der militärischen Niederlage. Sicher ist für die Experten, dass der IS als Guerilla Armee weiter funktionieren wird, denn er kontrolliert zwar nur noch geringe, vor allem ländliche Flächen im syrisch/irakischen Feld. Aber der IS wird Untergrund –Kommandos bilden. Denn Trotz eines massiven personellen Aderlasses besitzt der IS ausreichende Resourcen und Kämpfer, um Geheimoperationen und terroristische Aktionen zu planen und auszuführen – in der nahöstlichen Region ebenso wie international.

Ein Blick auf die Geschichte des IS bis hin zu einem Phänomen mit einem eigenen Terror-„Staat“ bis zum Ende des Jahres 2014 zeigt, wie blitzartig die Organisation unter Abu Bakr al Baghdadis ideologischer Führung gerade drei Jahre nach dem US-Rückzug aus dem Irak aufstieg. Dem IS gelang dies mit terroristischer krimineller Energie und Brutalität unter Einbindung tausende ausländischer Kämpfer sowie mit Topagenten und Fachleuten aus dem ehemaligen sunnitischen Geheimdienst- und Militärapparat Saddam Husseins. Zur Überraschung vieler Experten übertrumpfte der Islamische Staat seine „Mutteroganisation“ al Qaida und ließ die ehemaligen Bon Laden Truppe schlagzeilenmäßig und in der öffentlichen Wahrnehmung fast in Vergessenheit geraten. Trotz massiver Militärschlage der USA, vor allem aus der Luft, ebenso wie russische Operationen gegen IS-Kader wäre es verfrüht diese Verluste schon als Todesstoß zu interpretieren.

Wer über die zukünftige Existenz des IS spricht, sollte einen Blick auf den Mitgliederbestand und die Zahlen der Organisation werfen. Und hier ergibt sich schon das erste Dilemma: Vieles in diesem Kontext sind Schätzungen, nicht exakt zu belegen, so dass am Ende wohl die Erkenntnis steht – niemand weiß exakt die genaue Zahl der IS-Mitglieder in Syrien und im Irak, ganz zu schweigen von den Mitgliederangaben im globalen Raum.

Wie unterschiedlich die Angaben über die wahre Stäke des IS sind verdeutlichen die folgenden Beispiele: Im September 2014 mit Beginn der von den USA geführten Luftschläge gegen IS-Basen schätzte die CIA der Islamische Staat könne zwischen 20 000 und 31500 Kämpfer aufbieten. Ein CNN Bericht ging damals von einer dreimal höheren Zahl aus. Im Dezember 2016 berichtete das US-Militär von einer geschätzten Anzahl von 50000 getöteten IS-Mitgliedern. Im Februar 2017 sprach das US Special Operations Command von mehr als 60000 vernichteten Dschihadisten. Zwei Monate später, im April 2017, berichtete das Pentagon von geschätzten 70 000 getötete Kämpfern des Islamischen Staates. Aus diesen unterschiedlichen Zahlenangaben ergibt sich: die USA und ihre Verbündeten wissen eben nicht genau, wie viele Mitglieder der Islamische Staat im Irak und in Syrien heute hat. Vor diesem Hintergrund ist auch die Zahl von ca. 5000 westeuropäischen Fightern in den Rängen des IS nicht unbedingt kontrollierbar und gefestigt – von den Dunkelziffern ganz zu schweigen. Zudem kommen zu den offiziell gehandelten Zahlen noch jene Anhänger und Sympathisanten der IS-Dschihadisten hinzu, die nicht im „Mitgliederverzeichnis“ stehen.

Der „Islamische Staat“ hat sich im Laufe seiner relativ kurzen Geschichte zu einer internationalen Organisation entwickelt. Die Expansion über die Grenzen Syriens und Iraks hinaus begann, als der „Kalif“ Baghdadi im November 2014 die Gründung von „Provinzen“ überall auf dem Globus ankündigte. Allein diese Entwicklung erschwerte es, die genauen Zahlen über die IS-Stärke zu erheben. Denn diese sogenannten „Provinzen“ waren entweder kleine Terrorzellen oder –netzwerke oder entpuppten sich zu veritablen Untergrund oder Aufstandskommandos. Zeitweise kontrollierte zum Beispiel der libysche Zweig des Kalifats die Stadt Sirte. Zwar wurden die Dschihadisten gegen Ende des Jahres 2016 wieder aus ihren Positionen am Mittelmeer vertrieben, dennoch halten sie immer noch einige Positionen und Kämpfer innerhalb des Landes.

Auch in Afghanistan versucht der IS, erst recht nach den Rückschlägen in Syrien und im Irak immer wieder durch spektakuläre Anschläge – besonders in der Hauptstadt Kabul – Präsenz und Konkurrenz zu den dominierenden Taliban-Kräften zu zeigen. Diese Aktionen des IS gipfelten in Afghanistan zu Beginn des Jahres 2016 in der „Herrschaft“ über zehn Distrikte, die jedoch inzwischen wieder verloren gingen. Nach wie repräsentiert für den IS die „Provinz“ Khorasan das „Kalifat“ in Afghanistan und Pakistan. Konfrontationen mit der ägyptischen Armee und Polizei gibt es fast täglich in der Provinz „Sinai“, wo sich ein starker Ableger des IS festgesetzt hat. Im Oktober 2015 war dieser Zweig des IS verantwortlich für den Abschuss einer russischen Verkehrsmaschine mit 224 Menschen an Bord. Daraufhin brach der Sinai-Tourismus für Ägypten massiv ein. Nach dem Selbstverständnis des IS existieren weitere „Provinzen“ in Ost- und Westafrika sowie im Jemen.

Trotz massiver Schläge der internationalen anti-terroristischen Front gegen den IS, sehen Fachleute weltweit das globale Netzwerk der IS-„Provinzen“ als vorerst bestehendes ständiges Problem für die Sicherheit in naher Zukunft. Diese „Provinzen“ gelten als Ruheräume und Stützpunkte für größere terroristische Operationen, da die Operateure Landeskenntnisse besitzen und untereinander gut vernetzt sind. Zudem erschweren sie die Terrorfahndung und Verfolgung von internationalen Terroristen. Zum Beispiel haben Antiterror-Experten eindeutige Verbindungen von Terroranschlägen in Europa IS-Akteuren in Libyen zugeordnet. Daraus folgt der Schluss, und das könnte sich nach den Rückschlägen des IS in Syrien und Irak fortsetzen, dass die „externen“-Akteure des Islamischen Staates, die für Anschläge im Westen ausgewählt sind, nicht im eigentlichen nahöstlichen Kriegsgebiet stationiert sind. Dies ist ein weiterer Beweis für die inzwischen längst aufgebaute logistische Kette in der übergreifenden IS-Struktur. Zwar haben die US geführten Luftangriffe auf IS Basen und Stellungen die Kapazitäten für externe Operationen des IS durch die Tötung zahlreicher Dschihadisten zerschlagen, dennoch sind sie noch und immer wieder in der Lage, personelle Verluste zu ersetzen. Denn genaue und belastbare Zahlen über die Gesamtstärke des Islamischen Staates gibt es nicht – und: die ideologische Attraktion dieser Organisation auf viele junge Muslime existiert immer noch!

Der „Kult“ des Selbstmordterrorismus ist unter der Ägide des Islamischen Staates weiter gestiegen. Die Anzahl der Selbstmordangriffe durch den IS nach Ausrufung des „Kalifats“ übertrumpfte alle anderen Dschihadisten-Gruppen, einschließlich al Qaida. Allein für das Jahr 2016 reklamierte der IS 1.112 „Märtyrer-Operationen“ allein für Syrien und den Irak. In der ersten Hälfte des letzten Jahres zählte die Organisation für beide Länder 527 Suizid-Attacken, von denen fast Dreiviertel mit Sprengstoffautos ausgeführt wurden. Viele dieser Zahlen lassen sich nicht endgültig überprüfen. Auch fehlen in dieser Auflistung Selbstmordaktionen durch Anhänger oder Mitglieder des IS in anderen Ländern außerhalb des Nahen Ostens, wie zum Beispiel die Suizid-Aktionen im Frühjahr 2016 in Brüssel.

Um die gegenwärtigen „Märtyrer-Operationen“ des Islamischen Staates in ein perspektivisches Verhältnis zu stellen, hilft ein Blick auf Data-Erhebungen der Washington Post aus dem Jahre 2008. Nach Angaben des Blattes gab es gerade mal 54 Selbstmordaktionen insgesamt seit den verheerenden Anschlägen durch al Qaida „Märtyrer“ auf das World Trade Center und das Pentagon am 11.September 2001, 93 Selbstmordanschläge durchschnittlich monatlich im Jahr 2016 und 88 monatlich im Jahr 2017 so weit die Zahl bislang vorliegen. Viele dieser Aktionen wurden im Namen des IS von ausländischen Kämpfern ausgeführt.

Immer wieder in der Diskussion bei nationalen und internationalen Polizeibehörden und Sicherheitsdiensten ist die Zukunft tausender ausländischer IS-Söldner nach der Niederlage des „IS-Kalifats“ in Syrien. Dabei wird stets die Frage erhoben: Wie groß ist die Gefahr nach einer realen oder potenziellen Rückkehr dieser Kämpfer in ihre Heimatländer. Auch bei dieser Frage fehlen europaweit häufig noch immer exakte Zahlen. Man muss von einer nicht geringen Dunkelziffer ausgehen.

Was Deutschland betrifft scheint das Bild klarer. Die Sicherheitsbehörden gehen von 970 Personen aus, die nach Syrien und in den Irak gereist sind, um sich dort dem IS anzuschließen. 255 davon stammen aus Nordrhein-Westfalen. Nach Erkenntnissen der Sicherheitsbehörden sind bereits 320 von ihnen zurückgekehrt. Viele von ihnen verfügen über Kampferfahrung oder zumindest eine Waffen und Sprengstoffausbildung. NRW registriert unter den Rückkehrern auch 14 Frauen.

Ein Blick auf die operativen Taktiken und Vorgehensweisen des IS bei Terroranschlägen, so darf durchaus hier von einem „neuen Terrorismus“ gesprochen werden. Neu ist einmal die perfide, aber perfekte Nutzung der sozialen Medien bei der Führung der Täter und bei der Ansprache zwecks Rekrutierung. Neu bei manchen Anschlägen in Deutschland und anderen europäischen Staaten sind auch die Tatwaffen im Spektrum der gemeinhin bisher von Terroristen eingesetzten Wirkmittel. Ausdrücklich hatte nämlich der IS schon im Jahre 2014 durch seine Propagandaabteilung dazu aufgerufen, auch Gebrauchsgegenstände wie Messer, Äxte oder Steine aktiv gegen die „Ungläubigen“ einzusetzen. Hinzu kamen dann auch immer häufiger LKWs und PKWs als „Einsatzwaffen“ wie die Terroranschläge in Nizza, Berlin oder London zeigten. Diese Einsatzgegenstände standen in der konsequent vorgegebenen taktischen Linie des IS, die Gegner überall dort anzugreifen, wo man sie träfe. Als die militärische „Götterdämmerung“ für die Herrschaft des „Kalifats“ in Mossul und Rakka sich abzeichnete und somit der Zustrom ausländischer Kämpfer nicht nur logistisch schwieriger zu gestalten war, sondern auch an Attraktivität verlor, rief der Propagandaapparat der Islamisten dazu auf, nicht ins syrisch/irakische Kampfgebiet zu reisen und sich dem Terrordrill zu unterziehen. „Kämpft in euren Heimatländer, kämpft dort, wo er die Verhältnisse kennt!“ lautete stattdessen die Parole.

Dennoch war sich die Führung des Islamischen Staates bewusst, dass professionell vorbereitete und entsprechend von ausgebildeten Kämpfern ausgeführte Terroroperationen größere Opferzahlen und Schäden bewirken, als von Amateuren ausgeführte Aktionen. Als Beispiele dienen hier die Aktionen in Paris auf den Konzerttempel Bataclan 2015 sowie die Aktionen in der belgischen Hauptstadt Brüssel im Frühjahr 2017.

Besonders die an mehreren Ort zugleich ausgeführten Anschläge in Paris enthüllten auch die Strategie des IS, sich den Flüchtlingsstrom des Jahres 2015 zu nutze zu machen und unerkannt mit den Flüchtlingen aus den Kriegsgebieten Kommandos einzuschleusen. Denn die Mitglieder der Pariser Terrorgruppe waren zuvor beim IS ausgebildet worden und besaßen entsprechende Kampferfahrungen. Für Terrorfahnder offenbarten die Anschläge in Paris im November 2015 zudem noch die Kopie eines massiven Terroranschlags auf eine Großstadt, sie ähnelten nämlich dem Angriff auf die indische Finanzmetropole Mumbai im Jahre 2008, als dort ein zehnköpfiges aus Pakistan eingereistes Terrorkommando Hotels und andere Infrastrukturen in der Stadt angriff und die Stadt fast drei Tage paralysierte bis das Drama von den damals völlig überforderten indischen Sicherheitskräften beendet werden konnte.

Trotz der Niederlage des Islamischen Staates und des „Kalifats“ auf dem eigentlichen „Geburtsfeld“ Nahost ist die Gefahr durch die indoktrinierten und kampferprobten Kämpfer der Organisation noch lange nicht gebannt. Geschlagen, aber noch nicht besiegt formulierte es ein deutscher Sicherheitsexperte. Denn tausende Kämpfer sind eventuell demnächst ohne Beschäftigung, eine arbeitslose terroristische Söldnertruppe des Islamischen Staates. Viele von ihnen haben den ideologischen Virus der IS-Propaganda inhaliert. Aber nicht nur die fanatische Ideologie existiert in ihren Köpfen weiter. Auf dem Schlachtfeld im Bürgerkrieg und bei der Expansion ihres Herrschaftsgebietes haben sie mit technischem Know how experimentiert und gearbeitet. Sie können Sprenggürtel herstellen, produzieren selbstgebastelte Bomben und IEDs (improvisierte Sprengsätze). Diese Fertigkeiten stellen die Protagonisten des IS ins Netz und zielen somit auf Attraktivität für vermeintliche neue Anhänger oder Sympathisanten.

Das Modell „Kalifat“ ist gescheitert, aber tausende Kämpfer, Mitglieder und Sympathisanten existieren noch. Kein Sicherheit- oder Geheimdienst auf der Welt kennt genau ihre Zahl! Demnach bleibt – und das wissen die Nachrichtendienste und Polizeibehörden in Deutschland wie überall auf der Welt – die Gefahr durch den militant islamistischen Terrorismus aktuell die größte Gefahr und Herausforderung. Vieles an dieser Gefahr liegt noch im Dunkel, es ist eine asymmetrische und auch eine anonyme Gefahr und Bedrohung.

Rolf Tophoven
Rolf Tophoven leitet das Institut für Krisenprävention (IFTUS) in Essen, früher Institut für Terrorismusforschung und Sicherheitspolitik. Schwerpunkt seiner journalistischen und wissenschaftlichen Tätigkeit sind der Nahostkonflikt sowie der nationale, internationale und islamistische Terrorismus. Kontakt: E-Mail: info@iftus.de
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