Der IS verliert an Territorium, was heißt das für den islamistischen Terror in Europa?

Der IS verliert an Territorium, was heißt das für den islamistischen Terror in Europa?

In den letzten Wochen und Tagen ist wieder viel über das militärische Vorgehen gegen die sogenannte Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) zu lesen. Washington verbreitet hierzu: Wenn Mossul fällt, fällt auch der IS. Nun ist der IS nach blutigen Gefechten in Mossul deutlich zurückgedrängt und beherrscht nur noch einen Teil der Innenstadt. Ebenso haben die kurdischen Streitkräfte der Syrian Democratic Forces (SDF) mit Luftunterstützung einer US-geführten Koalition erfolgreich begonnen die Machtzentrale des IS in Syrien, Rakka, einzunehmen. Der Ruf nach einer politischen Lösung für Syrien und den Irak, komplementär zu den militärischen Erfolgen, ist erheblich. Allerdings erscheint die internationale Gemeinschaft hier weiterhin und weitgehend konzeptionslos und eingefroren.

Der territoriale Verlust des sogenannten IS, der Fall vieler Kämpfer im Herzland und eine fehlende politische Vision werden entgegen anderslautender Vorstellungen auch Konsequenzen für den islamistischen Terrorismus in Europa haben. Deshalb werden ebenfalls hierzulande politische und gesellschaftliche Lösungen dringend benötigt. Denn der teilweise durch die territorialen Verluste einhergehende und dadurch bedinge Strategiewechsel der Terrororganisation entwickelt sich zu einer Gefahr, die trotz akribisch arbeitender Geheimdienste und gestiegenem Schutz der Bevölkerung unkontrollierbar ist. Der Glaube dass, wenn der IS mit Mossul steht, er damit auch fällt, ist aus unterschiedlichen Gründen ein kindlich anmutender Irrglaube.

Als Auslöser des Strategiewechsels gelten die herben territorialen Rückschläge, die der IS Mitte Mai letzten Jahres an der irakisch-syrischen Grenze erlebte. Danach zog sich der IS aus vielen seiner dortigen Gebiete zurück, was oftmals fälschlicherweise als Sieg reklamiert wurde. Denn die Terrororganisation hatte vorgesorgt und sich in der Sahelregion sowie anderen Territorien verbreitet. Gleichzeitig blieben oft Sprengfallen und „Märtyrer“ wie in Mossul zurück, welche fatale Anschläge begingen. Die politische Ökonomie der Terrororganisation besteht weiterhin in der Expansion des Kalifats, und dieses nicht zwingend nur in Syrien und dem Irak. Deshalb nutzt der IS nun mehr und mehr den digitalen Raum, um für Kämpfer zu werben und vor allem um das Kalifat zu erweitern. In diesem Sinne intensivierte er seine Bemühungen zur Missionierung und Radikalisierung in Europa durch das Netz.

Manche Beobachter argumentieren, dass sich die Phase der Stärke des IS dem Ende zuneige, da sich die Anzahl der Foreign Fighters reduziert hat, das Kalifat an Territorium und Einnahmequellen verliert, sowie europäische Geheimdienste ihre Arbeitsweisen und Kooperationen angepasst haben. Die Organisation hat frühzeitig Maßnahmen für mögliche Rückschläge durch eine verbesserte Arbeit der Geheimdienste getroffen und ihre Rekrutierung und potenziellen Ziele auf mehrere europäische Länder ausgebreitet. So wurde dieses Jahr auch Schweden zum Opfer von islamistischen Anschlägen. Außerdem zeigt sich, dass der IS flexibel und rational seine Finanzquellen nutzt. So kooperieren der IS und Boko Haram zum Beispiel entlang der Drogenschmuggelrouten und dem damit einhergehenden lukrativen Handel in Nord-Algerien. Diese Entwicklung mahnt eine noch intensivere und effektivere Kooperation zwischen europäischen Geheimdiensten, privaten Sicherheitsberatungsfirmen und den Nicht-EU-Anrainer Staaten an. In Kombination mit der geänderten Strategie des IS lässt sich argumentieren, dass die Phase der Stärke noch nicht vorbei ist, sich lediglich das Vorgehen drastisch ändert. Die Unkontrollierbarkeit der Gefahr, die nun droht, gründet sich in der veränderten Struktur der Organisation. So hat Abu Musab Al- Souri schon 2005 in seinem Handbuch „The Call to Global Islamic Resistance“ eine lose, bottom-up Netzwerkstruktur gefordert, um Taten von Sympathisanten und nicht im Kriegsgebiet ausgebildeten Kämpfern zu fördern.

Diese Struktur steht in einem klaren Gegensatz zu der hierarchischen Ordnung und Arbeitsweise Al-Qaidas. Obwohl dem amerikanischen und britischen Geheimdienst dieses Dokument 2005 vorlag, haben sie die Konsequenzen durch eine mögliche strukturelle Veränderung unterschätzt. Nun aber, so argumentiert der französische Islamwissenschaftler und Terrorismusforscher Gilles Kepel, erlaubt diese lose Netzwerkstruktur der dritten Generation des Dschihad eine euro-dschihadistische Sphäre zu schaffen. Die Folgen dieser veränderten Kriegsführung führen zu einer unkontrollierten und akuten Gefahr in Europa und Deutschland, obwohl der IS militärisch im Mittleren Osten Territorium verliert.

Die euro-dschihadistische Sphäre ist eine Verbindung zwischen dem Kalifat und Europa durch die digitale Welt. Die virtuelle Welt schafft einen Raum der Kontinuität zwischen den beiden geographischen Regionen und stellt eine Expansion des Kalifats da. Durch das Internet ist das Kalifat direkt mit dem weichen Bauch des Westens verbunden. Dies ermöglicht eine Radikalisierung und eine genaue Anleitung zu Anschlägen, die unter dem Radar der Geheimdienste passieren. Mit Beginn der digitalen Ausweitung 2013 wurde Facebook zum Hauptvektor der Radikalisierung und seit dem Territorialverlust des IS wurde diese Nutzung intensiviert. Alleinig eine militärische Vernichtung entzieht dem IS nicht seinen ideologischen Nährboden, auf den sich die Missionierung zu radikalen Ansätzen im Netz bezieht. Stattdessen dienen „Kollateralschäden“ in der Zivilbevölkerung nach Angriffen auf den IS als Rechtfertigung für den Dschihad und erweitern den Pool von Sympathisanten. Der IS nutzt hochprofessionelle, als Dokumentarfilme getarnte Propagandavideos, wie die des ehemaligen, britischen BBC-Journalisten John Cantlie, der das Leben im Kalifat propagiert. Gleichzeitig nutzt der IS Propagandavideos außerdem um seine Aktionen zu legitimieren und Sympathisanten zu missionieren. Beispielhaft sind die französischen „19HH“ – als Dokumentarfilme getarnte Videos. Diese geben vor im Namen aller Muslime zu sprechen und werfen der westlichen Welt Untätigkeit vor, wenn muslimische Kinder, Frauen und Männer „banal“ getötet werden. Das „Ministerium“ des IS für Propaganda hat seine Arbeit in den letzten Jahren perfektioniert. Durch das Internet können die Dschihadisten so traditionelle geographische Grenzen überwinden und eine personalisierte Missionierung fernab des Kampfgebietes betreiben. Die digitale Verbindung gaukelt den Sympathisanten und Radikalisierten eine Gemeinschaft vor und erlaubt den „Missionaren“ ihre Zielgruppen individueller anzusprechen. Durch die Nutzung moderner Medien und Jugendsprache werden Inhalte, die zu Missionierung und Radikalisierung führen, subtiler verpackt.

Folglich müssen Sympathisanten nicht länger in das Kriegsgebiet reisen oder Orte der islamistischen Missionierung aktiv besuchen, um sich zu radikalisieren, ihre terroristische Ausbildung und Anweisungen für Anschläge zu erhalten, noch muss der IS lokale Kämpfer nach Europa schleusen. Gleichzeitig wird es Geheimdiensten erschwert, Radikalisierung und Planung frühzeitig zu erkennen, da die traditionalen und bekannten Wege der Radikalisierung und die Rekrutierungszentren umgangen werden können. Viel zu lange haben die Geheimdienste diese durch das Internet angeleiteten Terroristen als Lone-Wolf-Akteure abgetan, bis sie ihre Arbeitsweisen der 2005 begonnen Umstrukturierung des IS angepasst haben. Daraufhin wurde deutlich, dass viele Attentäter, wie zum Beispiel die Jugendlichen von Würzburg und Ansbach über Kurznachrichtendienste im direkten Kontakt mit Mitgliedern des IS standen oder wie im Falle Anis Amris ein Handbuch mit Anweisungen aus dem Internet herunterluden.

Die euro-dschihadistische Sphäre hat neben der digitalen Welt noch einen weiteren Pfeiler: die Gefängnisse. Diese dienen oft als Katalysatoren von Radikalisierung und Anschlagsplanung. So radikalisierten sich unter anderem die Attentäter Cherif Kouachi und Amedy Coulibaly 2006 im französischen im Fleury-Mérogis-Gefängnis und schlossen sich später dem Terrornetzwerk Al-Qaida an, bevor sie 2015 die Anschläge auf Charlie Hebdo begingen. Obwohl die Kapazitäten deutscher Gefängnisse, anders als in Frankreich, noch nicht überlastet sind, sollte die Politik frühzeitig reagieren. Gefängnisinterne Dynamiken sollten beobachtet und Präventionsprogramme eingeleitet werden, um die intensive Verbreitung islamistischer Visionen zu verhindern.

Der Aufbau dieser euro-dschihadistische Sphäre und eine intensivierte Nutzung dieser Struktur führt zu einer erheblichen Radikalisierungsgefahr in Europa und eines daraus resultierenden home-grown (hausgemachten) Terrorismus. Schaut man sich die Täterprofile der Anschläge in Deutschland, Frankreich und Großbritannien an, so zeigt sich, dass die Mehrzahl von europäischen Staatsbürgern begangen wurde. In Frankreich wurden fünf der sieben Attentate seit Juni 2016 von französischen Staatsbürgern mit Migrationshintergrund begangen¹. Noch deutlicher ist diese Entwicklung in Großbritannien. Alle drei Attentate in 2017² wurden von britischen Staatsbürgern mit Migrationshintergrund verübt. Allerdings scheint es noch Unterschiede in Europa zu geben: In Deutschland wurden nur zwei der fünf Anschläge von deutschen Staatsbürgern mit Migrationshintergrund verübt³. Weder der Anschlag von Ansbach, noch Würzburg und Berlin wurden von deutschen Staatsbürgern verübt. Obwohl die analysierte Anzahl vergleichsweise klein ist, legt sie den Verdacht nahe, dass wir es mit einem wachsendem home-grown Terrorismus und einer verstärkten Radikalisierung durch das Netz zu tun haben. Deutschland mag hier von seiner kleineren und besser integrierten arabisch-muslimischen Bevölkerung und einer weniger belasteten Vollzugsstruktur in Gefängnissen profitieren. Dennoch sollte Deutschland, wie Frankreich und Großbritannien diese Entwicklung ernstnehmen, die Zusammenarbeit der Geheimdienste aufbereiten und intensivieren ebenso wie in präventive Radikalisierungsprogramme und Integration investieren. In Anbetracht dieser schwer kontrollierbaren Gefahr klingt es fast wie Hohn, dass die Bundesregierung erst 2018 in Präventionsprogramme zur islamistischen Radikalisierung investieren wird. In der Hoffnung, dass es bis dahin nicht zu spät ist.

¹ Juni 2016 Terroranschlag in Magnanville; Juli 2016 Anschlag auf einen Priester in der Kirche Saint-Etienne du Rouvray; September 2016 versuchter Anschlag bei Notre-Dame in Paris, März 2017 versuchter Anschlag auf den Flughafen Orly, April 2017 Attentat auf den französischen Polizisten

² London 22. März 2017, Manchester 22. Mai 2017, London 3. Juni 2017

³ Februar 2016 Attentat auf einen Polizisten in Hannover; April 2016 Anschlag auf ein Gebetshaus der Sikh in Essen

Bildnachweis: Fotolia_138489938: (© Alik Mulikov / Fotolia)

Friederike Wegener
Friederike Wegener, freie Mitarbeiterin des Security Explorer. Friederike Wegener studierte European Studies in den Niederlanden und Süd-Korea und hat einen Masterabschluss der französischen Universität Sciences Po Paris in International Security mit Fokus auf den Nahen Osten und Intelligence. Sie sammelte bereits Arbeitserfahrung bei consulting plus, der Delegation der Europäischen Union zu den Vereinten Nationen in Wien und bei dem UN Flüchtlingshilfswerk für die Palästinensischen Flüchtlinge im Nahen Osten. Derzeit arbeitet sie bei der Europäischen Kommission im Generaldirektorat Migration und Inneres, in der Unit Prävention von Radikalisierung als Policy Officer in Brüssel. Im August 2018 erschien ihr Buch „Quo Vadis Palästina“ bei consulting plus, in dem sie das Leben als deutsche Studentin im besetzten Gebiet beschreibt und Einblicke in die komplexe politische nationale und international Konfliktlage im Arabisch-Israelischen Konflikt gibt.
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