Muttis Schnellkochtopf und der „Homo dschihadicus“

Boston, 15. April 2013: Es wird ein Anschlag verübt an einem Ort, an dem viele Menschen zusammen kommen und der praktisch kaum zu schützen ist. Die Auswahl der Opfer ist zufällig, die Bomben sind technisch nicht besonders aufwändig konstruiert. Es sind handelsübliche Schnellkochtöpfe, gefüllt mit Sprengstoff, Eisenteilen und Nägeln. Dennoch detonieren mehrere davon zeitgleich dort, wo Menschen besonders dicht beieinander sind – im Zieleinlauf des Boston-Marathons. Für den Anschlag wird ein symbolträchtiger Tag gewählt – der Patriots’ Day. Auch das Land, die USA, scheint nicht zufällig gewählt. Es gibt eine Vielzahl weltweiter, aber auch innenpolitischer Feinde. Für sie sind die USA und besonders deren Regierung die Wurzel des Bösen.

Eigentlich kann daraus ein klares Täterprofil abgeleitet werden, das auf organisierte islamistische Dschihad-Netzwerke hindeutet. Solche Anschläge – durchgeführt oder versucht – hat es seit 9/11 immer wieder gegeben. Madrid, London, Istanbul – die Kette ist lang. Auch die Vorgehensweise und das Ziel scheinen in das gängige Muster des islamistischen Netzwerk-Terrorismus zu passen. Diesmal ist es genau so, aber gleichzeitig doch völlig anders. Wie passt das zusammen?

Islamisten nutzen moderne Medien
Zentrale Medienproduktion, Markenbildung, optisch angepasste Websites, integrierte Kommunikation – Begriffe, die mittlerweile auch Terroristen kennen. Sogar eine Art Internet-Uni haben Gruppen wie Al-Qaida im Angebot. Das Internet bietet den Aktivisten die Wissensgrundlage. Die Inhalte werden immer besser auf Zielmedien zugeschnitten und man bedient sich der Kommunikationselemente, die auch von Medienprofis für Unternehmen verwendet werden. Im Internet werden Zeitschriften oder Bücher veröffentlicht, Schulungsunterlagen verbreitet, Videoclips gezeigt und Bekennerschreiben publiziert. Daneben geht es auch um die Rekrutierung neuer Mitstreiter. Im Grunde betreiben Terroristen heute ein „Corporate Publishing“ unter einer „Corporate Identity“.

Längst ist das Internet für die Dschihadisten nicht nur eine Waffe der psychologischen Kriegsführung, sondern dient auch zur Mobilisierung und Rekrutierung. Ganz einfach vom heimischen PC oder vom Internet-Café aus können Interessierte eine Art Ausbildung belegen: Im Netz unterrichteten „Lehrer“ ihre „Schüler“ z.B. in Waffenkunde, Bombenbau, Kampf oder Kommunikation. Mit einer Art „Fernstudium“ können zudem wesentlich mehr Menschen weltweit erreicht werden als mit Trainingscamps in zerfallenen Staaten wie Pakistan, Afghanistan, Jemen oder Somalia. Weil Islamisten die modernen Medien intensiv nutzen, verschwimmen auch die Grenzen zwischen Sympathisanten und Aktivisten.

Online-Magazin propagiert Dschihad
An Bedeutung gewonnen hat der individuelle Dschihad, der vor allem im englischsprachigen, seit Mitte 2010 herausgegebenen Dschihad-Online-Magazin INSPIRE propagiert wird. INSPIRE hat zum Ziel, mithilfe von Interviews und Beiträgen bekannter Dschihad-Akteure sowie konkret beschriebener Anleitungen Muslime in westlichen Ländern zur Durchführung von Anschlägen in ihren Heimatländern zu inspirieren. Die Wirkung dieses Konzeptes der (Selbst-)Radikalisierungsprozesse williger Autodidakten wurde in den vergangenen Jahren immer wieder deutlich. Auch wenn solche Propaganda aus dem Internet nicht allein für extremistische Ansichten und die Bereitschaft zu Anschlägen verantwortlich ist, hat sie dennoch einen wesentlichen Einfluss auf die Radikalisierung einzelner Personen.

Vordenker des Medien-Dschihads ist der Syrer Abu Musab as-Suri (Mustafa Setmariam Nasar). Unter dem Motto „System und keine Organisation“ forcierte er eine dezentrale Informations- und Propagandastruktur, die aus unabhängigen Personen besteht und nur lose durch das Netz und eine gemeinsame Ideologie verknüpft ist. Seine Vision verwirklichte sich und das Internet wurde zu einem effektiven Propaganda- und Rekrutierungsinstrument des globalen Dschihad. Suri verfolgt die Schaffung eines „Homo dschihadicus“ mit einer breitenwirksamen „terroristischen Bildung“ und „Kultur“. So sollen viele Muslime überall auf der Welt radikalisiert werden, was nur über das Internet bzw. die neuen Medien funktioniert.

Durch INSPIRE muss der Leser die gewünschten Informationen nicht suchen, sondern kann ein Magazin durchstöbern oder im Inhaltsverzeichnis gleich gezielt nach einzelnen Beiträgen suchen. Um die jungen Männer zu erreichen, wird von einem „Open Source Jihad“ (offen für jeden) gesprochen. Die Idee ist, dass man keine gefährliche Reise mehr in ein Terrorcamp machen muss, sondern sich selbst ausbilden kann. Vermittelt wird z.B. technisches Know-how in Form von Bauanleitungen für Bomben aus frei verfügbaren Haushaltsmitteln und alltäglichen Gebrauchsgegenständen. Einzelkämpfer sollen angespornt werden, mit einfach zugänglichen Mitteln möglichst viel Schaden anzurichten. Empfohlen wird auch, zunächst nicht in Kontakt mit Gleichgesinnten zu treten. Alles soll ganz überraschend geschehen. Vor allem müsse man an die maximale Wirkung denken. Innovation ist gefragt, um die meisten Opfer oder den größten wirtschaftlichen Schaden zu verursachen.

Terrorismus zunehmend entprofessionalisiert
Im Sommer 2010 fand sich im INSPIRE-Magazin unter der „Open-Source-Dschihad“-Rubrik ein Artikel namens „Wie macht man eine Bombe in Muttis Küche“, nämlich in dem ein handelsüblicher Schnellkochtopf präpariert wird. Detaillierte Bauanleitungen zu Sprengstoffen, Topfinhalten und Zündung inklusive. Solche Bomben sind auch von den Boston-Attentätern gebaut worden. Zwei davon fanden beim Marathon Verwendung, weitere sollten an anderen Zielorten ausgebracht werden.

Die Täter: Der 19-jährige Dzhokhar Tsarnaev und sein bei der Festnahme getöteter 26-jähriger Bruder Tamerlan sind tschetschenischer Abstammung. Die Familie immigrierte 2002 in die USA. Im März 2007 erhielt die Familie dauerhafte Aufenthaltsgenehmigungen für die USA. Sie ließ sich in Massachusetts nieder. Dzhokhar Tsarnaev, der seit 2012 die US-Staatsbürgerschaft besitzt, studierte Meeresbiologie an der University of Massachusetts. Tamerlan Tsarnaev war verheiratet und hatte eine zweijährige Tochter. Beide haben sich aber offenbar in den letzten Jahren mit der Dschihad-Ideologie infiziert. Bereits im März 2011 soll das FBI durch den russischen Inlandsgeheimdienst FSB gewarnt worden sein, dass Tamerlan Anhänger eines radikalen Islam sei.

Wie intensiv beide Brüder im INSPIRE-Magazin gelesen haben und ob es eine vollständige Selbstradikalisierung war, ist Gegenstand der Ermittlungen. Auffällig ist allerdings, wie genau ihre selbstgebauten Bomben mit den Anleitungen aus INSPIRE übereinstimmen. Auch nach der Ausgabe Sommer 2010 ist dort immer wieder zu simplen Anschlägen mit technisch einfachen Bomben aufgerufen worden.

Für die Ermittler indes wird es immer schwieriger, solche Anschläge im Vorfeld zu verhindern. Zum einen ist das Know-how für einen Anschlag wie in Boston allgemein verfügbar und kann von jedem mühelos abgerufen werden. Zum anderen hat eine erhebliche Entprofessionalisierung des Terrorismus stattgefunden, so dass heute auch spontan radikalisierte Amateure aus jedem Spektrum zur Bombe greifen können.

Dr. Kai Hirschmann
Dr. Kai Hirschmann, Publizist, Lehrbeauftragter für Sicherheitspolitik, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität, Bonn, stellvertretender Direktor des IFTUS – Institut für Krisenprävention, Essen und Redakteur des Security Explorers.
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