Wie in einem amerikanischen Gefängnis der IS-Terror geboren wurde

Die Wiege des IS-Terrors war von einem hohen Zaun mit rollenweise Stacheldraht umgeben. Sie wurde beschützt von schwer bewaffneten US-Soldaten. 50 Pfund wog allein ihre Körperpanzerung, hinzu kamen der Helm und das M-16-Gewehr. So beschreibt ein Magazin der US-Kriegsmarine das Gefangenenlager Camp Bucca, das Briten und Amerikaner nach ihrem Einmarsch im Irak errichteten.

Die Invasoren waren sich der Gefahr, die von den Gefangenen ausging, bewusst. Nur fürchteten sie vor allem Ausbruchsversuche, Übergriffe auf das Wachpersonal oder Meutereien. Und nicht das, was nach der Zeit im Camp Bucca kommen sollte: der Terror des Islamischen Staates.

Der heutige IS-Chef
100.000 Gefangene sollen zwischen 2003 und 2009 durch das Camp Bucca geschleust worden sein. Unter ihnen mindestens neun führende Mitglieder des Islamischen Staates, wie die Sicherheitsberatungsfirma Soufan Group nun aufdeckt.

Einer von ihnen ist der heutige Anführer der Terrormiliz: Abu Bakr al-Baghdadi. Über seine Vorgeschichte ist wenig bekannt. Man geht davon aus, dass er vor der IS-Invasion keine bedeutende Rolle in der islamistischen Szene einnahm. Anfang 2004 wurde er im Camp Bucca interniert – wegen Verdachts auf Unterstützung von Al Kaida. Wie lange er dort bleiben musste, ist nicht dokumentiert. Ein knappes Jahr, mutmaßen manche, fast fünf Jahre, behaupten andere.

Sicher ist nur: Als Baghdadi freigelassen wird, ist er ein anderer Mensch. Während seiner Haft hat er viele Gegner des neuen irakischen Regimes kennengelernt. Es sei wahrscheinlich, dass er dadurch in den Widerstand hineingezogen worden sei, heißt es in dem Bericht der Soufan Group.

„Rekrutierungszentrum und Trainingsgelände für Terroristen“
Camp Bucca ist nach dem Sturz Saddam Husseins ein Sammelbecken für alle möglichen Gefangenen. Anfangs versuchen die Soldaten noch, die Gründe für die Festnahmen zu dokumentieren. Doch in den Wirren des Krieges geht dieser Vorsatz schnell unter. Islamistische Terroristen treffen hier auf ehemalige Mitglieder des Saddam-Regimes, dazwischen finden sich Kleinkriminelle und Unschuldige.
In den ersten Jahren sind die amerikanischen Besatzer mit dem Krieg beschäftigt und damit, offene Gewalt im Gefängnis zu verhindern. Die Häftlinge bleiben meist sich selbst überlassen. Eine Chance, die die Radikalen unter ihnen nicht ungenutzt lassen.

Hier schmieden Islamisten und Ex-Saddam-Anhänger ihr Bündnis
„Die Gefängnisse wurden Rekrutierungszentren und Trainingsgelände für die Terroristen, die die USA jetzt bekämpfen“, schreibt ein Veteran der Operation „Iraqi Freedom“, Andrew Thomson, in einem mit dem Wissenschaftler Jeremi Suri verfassten Gastbeitrag für die „New York Times“.

Sicher ist: Die Zeit im Gefängnis hat den Extremismus von Baghdadi und anderen vertieft, ihnen die Möglichkeit gegeben, gemeinsame Pläne zu schmieden – und neue Anhänger für ihre Idee zu werben.

So entstand nach Einschätzung der Soufan Group auch die Allianz zwischen der Terrorgruppe Al Kaida im Irak und den ehemaligen Mitgliedern der irakischen Baath-Partei von Saddam Hussein. Die einen brachten den radikalen ideologischen Überbau mit, die anderen das organisatorische und militärische Know-how.
Diese IS-Führer waren in Camp Bucca inhaftiert

Wie fruchtbar diese Allianz war, zeigt die Liste jener IS-Führer, die einst in Camp Bucca inhaftiert waren.

Fadil Ahmad Abdallah Hayyali aka Abu Muslim al Turkmani: Früher stand er dem irakischen Diktator Saddam Hussein nahe. Nach der amerikanischen Invasion war er lange Zeit im Camp Bucca inhaftiert. Heute ist er der Stellvertreter von Baghdadi und kontrolliert den IS im Irak.

Abu Ayman al Iraqi aka Abu Mohammad al Sweidawi: Er gehörte Husseins Luftwaffe an. Zwischen 2007 und 2010 wurde er von der US-Armee inhaftiert. Beim IS koordinierte der für seine Brutalität bekannte Sweidawi Anfang 2014 die Operationen in West-Syrien.

Abu Abdulrahman al Bilawi aka Adnan Ilsmail Najm: Auch er gehörte der Armee Husseins an, bevor er im IS aufstieg. Im Juni 2014 wurde er bei einem Überfall durch irakische Sicherheitskräfte getötet. Unmittelbar danach startete der IS in seinem Namen eine Vergeltungskampagne mit dem Ziel, Mossul einzunehmen.

Haji Bakr aka Samir Abd Muhammad al Khilfawi: Einst Mitglied der irakischen Revolutionsgarde geriet Khilfawi zwischen 2003 und 2010 in US-Gefangenschaft. Der IS schätzte ihn vor allem für sein Organisationstalent. Im Januar 2014 wurde er in Syrien getötet.

Abu Qasim aka Abdullah Ahmad al Meshadani: Innerhalb des IS ist er für die IS-Kämpfer aus dem Ausland zuständig.

Abu Lu’ay aka Abdul Wahid Khutnayer Ahmad: Er nimmt eine wichtige Rolle im Sicherheitsapparat des IS ein.

Abu Shema aka Fares Reif al Naima: Sein Zuständigkeitsbereich sind die Lager und Vorräte der Terrormiliz.

Abu Suja aka Abdul Rahman al Afari: Er koordiniert das Spendenprogramm für Waisen und Familien der sogenannten IS-„Märtyrer“.

Ein ehemaliger Offizier, der im Camp Bucca eingesetzt wurde, schrieb im Juli auf Twitter: „Viele von uns waren besorgt, dass wir im Camp Bucca statt Gefangene festzuhalten einen Schnellkochtopf für Extremismus geschaffen hatten.“ Irakkriegsveteran Thompson klagt in der „New York Times“ an: „Die Radikalisierung der Gefängnisbevölkerung war für alle offensichtlich, die aufgepasst haben. Unglücklicherweise taten das wenige Militärführer.“

Universitäten des Terrors
Die Gefängnisse wurden Thompson zufolge regelrechte Universitäten des Terrors: Die abgehärteten Radikalen als Professoren, die restlichen Insassen als ihre Studenten. Viele der Gefangenen ließen sich in ihrem Hass auf die Besatzer nur zu gern von den islamistischen Lehren beeindrucken. Andere beugten sich schließlich dem Druck. Im Gefängnis sollen Häftlinge sogar sogenannte „Scharia-Gerichte“ organisiert haben, um jene zu bestrafen, die sich den strengen religiösen Vorschriften entzogen.

Erst 2008 begannen die Amerikaner, umzudenken. Sie trennten terroristische Hardliner von moderaten Häftlingen und schufen Beschäftigungsangebote für die Insassen – um diesen eine Alternative zum islamistischen Rekrutierungsunterricht zu bieten. Eine Initiative, die zu spät kam.

Im März 2009 wurden hunderte Häftlinge aus dem Camp Bucca entlassen. Im September desselben Jahres wurde das Lager schließlich ganz geschlossen. Gut zwei Jahre später verließen die letzten US-Soldaten den Irak. Nun sind die Amerikaner mit einem Fuß zurück. Aus der Luft bombardieren sie jene Terroristen, die sie damals hinter dem großen Stacheldrahtzaun gefangen hielten.

Dieser Beitrag wurde am Mittwoch, 05.11.2014, auf FOCUS-Online veröffentlicht.
Autorin: Linda Wurster, Focus-Online Redakteurin

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